Zur Crunch-Debatte hab ich als ehemals direkt Betroffener natürlich auch ein bisschen Senf, den ich dazu abgeben kann Ist jetzt eine Mischung aus Erfahrungen, die ich selber gemacht habe und Erzählungen von Kollegen aus der Branche.
Michi hat den meiner Meinung nach ausschlaggebendsten Faktor eh mehrmals erwähnt: Software ist an sich schon sehr schwer planbar, aber Videospiele sind hier ganz eindeutig der Endboss aller Endbosse. Ganz einfach deswegen, weil Spielspaß nicht planbar ist. Gute Software entsteht in extrem iterativen Schritten, wo es normal ist, dass man die Arbeit der letzten X Wochen, wenn nicht sogar Monate einfach wegschmeißen muss, weil es schlichtwegs keinen Spaß macht.
Deswegen sind auch die allermeisten AAA Spiele heutzutage die x-te Fortsetzung von einem erfolgreichen Spiel oder kupfern 1:1 ab, was wo anders schon funktioniert hat. Aber etwas NEUES ausprobieren, und es solange zu tweaken, bis es auch tatsächlich Spaß macht, ist ein extrem zeitaufwändiger und somit auch schwer planbarer und kostenintensiver Prozess.
Eine Lösungsansatz wären Prototypes, also mit heißen Nadeln gestrickte, rein funktionelle Vorab-Versionen, an denen man so lange herumbastelt, bis sie Spaß machen und erst DANN startet man die richtige Produktion. Das Problem hierbei ist, dass auch Prototypen sehr lange dauern können. Und Zeit ist in der Games Industrie immer rar. Außerdem sind auch Prototypen kein Allheilmittel, weil wenn man dann mitten in der richtigen Entwicklung des Spiels steckt, kann sich noch alles um 180° drehen und plötzlich hat das Spiel kaum mehr was mit dem Prototyp zu tun. Eigentlich müsste man an dieser Stelle das Projekt pausieren und die nächsten 2 Monate prototypen. Aber die Maschinerie läuft dann bereits und kann nicht mehr gestoppt werden.
Ich gehe hier mal davon aus, dass das Studio von Auftragsarbeiten abhängig ist, weil ich das nur so von meinem frühreren Arbeitgeber kenne. Das läuft meistens so ab, dass Publisher ein Projekt ausschreiben und sich Studios dann dafür bewerben. Die Ausschreibung geschieht WELTWEIT, als Firma aus Österreich steht man also direkt mit Studios aus China, Amerika, Japan etc. im Wettbewerb. Da kann es schon sehr herausfordernd sein, preislich mitzuhalten, aber man braucht dringend ein neues Projekt, um seine Firma weiter finanzieren zu können. Also steht man leicht vor der Frage: Projekt zu nicht ganz optimalen Konditionen annehmen, oder kein Projekt annehmen und die Firma schließen? Erste Option führt dann in weiter Folge mit großer Wahrscheinlichkeit dazu, dass das Budget (also das Geld, dass das eigene Studio vom Publisher für die Umsetzung des Auftrags bekommt), sehr knapp ist, was wiederum heißt, dass weniger Leute in weniger Zeit als benötigt das Projekt stemmen müssen, was zwangsläufig zu Zeitproblemen und somit Crunch führt. Wie gesagt: Die Alternative wäre, gar kein Projekt zu bekommen und somit die Firma zusperren zu müssen.
Der größte Befeuerer für Crunch ist aber die Planung und das Milestone-Prinzip. Der Publisher will regelmäßig einen gewissen Fortschritt sehen, und wenn dieser passt, erst dann gibts Geld. Das passiert zu den Milestones. Diese sind vertraglich ausgehandelt. Sagen wir, das Studio muss jedes Monat einen neuen Milestone abliefern, und darin genau die zuvor festgelegten Kriterien erfüllen. Das Team arbeitet also daran, am Monatesende eine Version fertig zu haben, die alles erfüllt. Das kann schonmal regelmäßig vor Milestones zu Mini-Crunches führen. Nimmt der Publisher den Milestone nämlich nicht ab, weil ihm die Qualität nicht passt, dann gibts auch kein Geld und somit auch keine Gehälter für die Mitarbeiter. Es ist also im Sinne aller Mitarbeiter, dass die Milestone-Version gut genug ist, weil es um das eigene Gehalt geht. Crunchen passiert also auch aus Selbsterhaltung. Vor allem in kleinen unabhängigen Studios fühlt man sich selbst mitverantwortlich für das weitere Bestehen der Firma. Man denkt also nicht „Mein Chef ist so böse, der befiehlt dauernd Crunch“ sondern eher „wir müssen diese Version so gut wie möglich hinbekommen, es steht die Firma und somit auch mein Gehalt am Spiel“.
Aber eines ist klar: So gut wie NIE ist Crunch Schuld des Teams. Der Grundstein für Crunch ist IMMER schon am Projektbeginn gelegt, wenn Verträge, Milestones und Budget festgelegt wird. Wenn man beim Crunchen also auf jemanden böse sein will, dann auf diejenigen, die die Verträge ausgehandelt haben.
Und das brutalste sind einfach von Anfang an fix festgelegte Erscheinungstermine. Es ist so gut wie unmöglich, mit einer Neuentwicklung eine terminliche Punktlandung zu schaffen, die 1 oder 2 Jahre zuvor festgelegt wurde. Software und Videospiele sind unplanbare Biester.
Das ist auch der Grund, warum Nintendo immer erst sehr spät ihre Spiele überhaupt erst ankündigen (Metroid Prime 4 und BOTW 2 sind Ausnahmen, die die Regel aber bestätigen). Bei Nintendo weiß man genau, dass die Entwicklung eines Spiels eben so lange dauert, wie sie dauern muss, und dass man das nicht genau festlegen kann. Aber das können sich halt nur wenige Hersteller leisten, denn Zeit ist Geld. Ganz zu schweigen davon, dass die Marketingabeilung ja auch schon viele Monate vor dem geplanten Release die Maschinerie hochfahren muss und eine Verschiebung komplexe Release-Schedules komplett über den Haufen wirft etc etc etc.
…
Ja, das war jetzt ziemlich viel
Aber wenn ich auf den Punkt bringen müsste, wie man das Crunch Problem lösten könnte, dann wäre es ganz klar: Publisher und Studios müssen Videospiele als diese unberechenbaren Biester aktzeptieren, die sie sind und von vornherein genug Spielraum einplanen, um auch mitten drin mindestens einmal, aber am besten mehrmals mit großen Teilen des Spiels von vorn zu starten. Aber sobald ein Projekt mit „Ihr habt X Monate, ein Spiel mit genau dem Featureset Y und Umfang Z zu entwicklen, und es muss auch Spaß machen und eine Metacritic Wertung von mindestens 85% erreichen“ beginnt, ist Crunch so sicher wie das Amen im Gebet.