Spiele, die ich vermisse #171: Lure of the Temptress

Ein Juli voller neuer Spiele ging für mich zu Ende, als ich diese Zeilen zu schreiben begann – sogar so voll, dass es bis zur Veröffentlichung dieses Textes schon längst August ist, denn hinter all den neuen Erfahrungen mussten die alten Erinnerungen ein wenig anstehen. Dabei hängt natürlich beides irgendwie zusammen: Neue Titel können, wie ich schon oft bewiesen habe, Erinnerungen an alte Spielerlebnisse triggern – und auch heute möchte ich diesem Muster folgen. Spiel des Anstoßes ist diesmal Beyond A Steel Sky, das als Sequel zu einem 1994er-Titel schon genug Retro-Erinnerungspotenzial bietet. Aber ich möchte noch einen Schritt weiter zurück gehen: Vor dessen Vorgänger Beneath A Steel Sky gab es nämlich den Debüt-Titel von Revolution Software, ein kleines Adventure namens Lure of the Temptress, das schon lange auf meiner Erinnerungsliste steht und jetzt endlich an die Reihe kommen darf.

In einer mittelalterlichen Fantasywelt: Der junge Bauer Diermot wird von der Jagdgesellschaft des Königs als Treiber angeheuert, aber unvermittelt in einen Vorfall bei der kleinen Stadt Turnvale verwickelt. Was zunächst wie ein Aufstand wirkt, ist in Wahrheit ein Angriff der menschenfressenden Skorl auf das Reich. Unter der Führung der Zauberin Selena werden die Mannen des Königs besiegt und der Monarch selbst getötet. Diermot hingegen wird von den Skorl ins Verließ geschleppt, wo ihn ein vielleicht noch schlimmeres Schicksal erwartet. Mit ein wenig Hilfe des Spielers, aber auch Unterstützung durch den Gaukler Ratpouch, den unser Protagonist befreit, können wir nach Turnvale fliehen. Doch damit beginnt das Abenteuer erst, denn ein sterbender Gefangener hat uns eine Nachricht für den Schmied mitgegeben und vor einer Gefahr für ein Mädchen gewarnt. Und wer weiß, vielleicht kann Diermot ja sogar die böse Zauberin ausschalten …

Wir schreiben das Jahr 1992 – eine Blütezeit des Point’n’Click-Adventures, in der nicht nur mit Sierra Online und Lucasfilm Games/LucasArts zwei echte Big Player ein Meisterwerk nach dem anderen abliefern, sondern es fast zum guten Ton von Entwicklern und Publishern gehört, ein Grafik-Adventure im Portfolio zu haben; eine Zeit, in der Adventures Mainstream-Grafikwunder sind, die tolle Story mit eindrucksvoller Grafik und natürlich mehr oder weniger harten Rätselnüssen verbinden. Es ist diese Zeit, in der Revolution mit seinem Erstlingswerk Lure of the Temptress den Einstieg in dieses eigentlich recht volle Marktsegment wagt – und einen Einstand liefert, an den man sich heute noch erinnert.

Doch was machte Lure of the Temptress so einzigartig? War es das Setting? Nein, die mittelalterliche Fantasywelt war jetzt nicht sonderlich außergewöhnlich designed, wenn auch atmosphärisch schön getroffen; waren es die Rätsel? Nein, auch nicht unbedingt – hier wurde ziemliche Standardkost geboten. Und auch die Grafik war zwar für die frühen 90er schön anzusehen (wenn auch ein wenig farbarm), aber nicht so speziell herausragend. Was Lure of the Temptress von der Konkurrenz unterschied, lag an der selbst entwickelten Adventure-Engine namens Virtual Theatre. Auf den ersten Blick machte diese nichts anderes als die Konkurrenzprodukte, also beispielsweise die SCUMM-Engine von LucasArts oder der Sierra Creative Interpreter (SCI): Sie war das Rückgrat des Spiels, durch die Sprites vor Hintergründen gezeigt und animiert werden konnten, der Spieler mit der Welt interagieren konnte, und war für das Ausführen der Scripts, die das eigentliche Spiel bildeten, zuständig. Dass sie dabei ressourcenschonender war als beispielsweise SCI, ist eine guter technischer Bonus (Revolution Software portete knapp nach ihrem Einstand King’s Quest VI für Sierra auf den Amiga, programmierte das Spiel aber von Grund auf neu in ihrer Engine, da das Spiel so besser auf der Hardware lief), aber für den Spieler wohl weniger relevant. Viel wichtiger war, dass Virtual Theatre eine interessante Zutat hinzufügte: künstliche Intelligenz und eine damit erzeugte Lebendigkeit der Spielwelt.

Die Idee war, dass die Bewohner eines Dorfes nicht einfach statisch herumstehen und auf Interaktionen warten, sondern einem gewissen Tagesablauf nachgehen sollten. Der erste Einsatz dieses Features in Lure of the Temptress war gleichzeitig jenes Mal, bei dem diese Idee am stärksten zum Einsatz kam: Die Entwickler simulierten ein lebendiges Turnvale, in dem die Einwohner herumwanderten und ihr Leben lebten. Das war für die damalige Zeit eindrucksvoll, hatte aber auch einen deutlichen Nachteil: Bisweilen musste man die nötigen NPCs richtiggehend suchen, und was sie gerade unternahmen, wirkte oft sehr zufällig. Im Folgewerk Beneath a Steel Sky kompensierte man dies, indem man die Eskapaden der NPCs beschnitt. Das machte das Spiel deutlich vorhersehbarer.

Ein weiteres Feature der Engine war, dass die Spielfiguren nun Platz brauchten. Man konnte sich nicht einfach durchnavigieren und vorbeischummeln; wenn jemand im Weg stand, gab es kein Vorbeikommen, bis der NPC uns Platz machte. Das galt auch für unseren Protagonisten, weshalb wir regelmäßig – und auch das sorgte für eine gewisse Lebendigkeit – Kommentare von Leuten hörten, die an uns vorbei wollten. Ja, es konnte manchmal schon etwas zu viel sein, aber im Endeffekt war es eine interessante Idee, die vielleicht nicht bahnbrechend, aber zumindest spannend war. Aber auch manchmal ein wenig nervig.

Wesentlich wichtiger für das Spiel an sich (und weit weniger zweischneidig) war eine weitere Idee: Wir hatten fast immer einen Begleiter dabei, angefangen mit Ratpouch; dieser war nicht einfach nur ein Mitläufer, der für ein paar Dialoge gut war, aber sonst im Spiel kaum Relevanz hatte, sondern tatsächlich ein wichtiges Puzzlesteinchen für die Rätsel. Lure of the Temptress erlaubt es uns nämlich, unseren Begleitern komplexe Kommandos zu geben, die dann Schritt für Schritt abgearbeitet wurden. Zum Beispiel konnte man Ratpouch von Location zu Location schicken, dazwischen etwas einsammeln oder mit etwas interagieren lassen und ihn dann wieder zu uns zurückbeordern. Das erlaubte es, zum Beispiel eine Tür zu öffnen, die nur dann aufging, wenn jemand ein paar Räume weiter an einer Kette zog. Auch wenn das Feature an sich eine interessante Idee war, muss man aber gleich dazu sagen, dass es in gewisser Hinsicht spartanisch war – man musste sich schon genau planen, wie man vorgehen wollte, da einem das Spiel bei der Zusammenstellung der Befehle kaum unter die Arme griff. Wer nicht wusste, was wo war, konnte rasch auf Probleme stoßen. Und es gab immer eine gewisse Wartezeit, weil das Spiel die Aktionen in Echtzeit ausführte, man aber kein Feedback bekam, wenn man nicht entweder im selben Raum war oder aber die Aktion in der aktuellen Location Auswirkungen hatte.

Abgesehen von dieser Mechanik war Lure of the Temptress fast Standardkost für Adventures dieser Ära: Man klickte sich durch die Räume, wobei das genaue Kommando per Kontextmenü ausgewählt werden konnte – eine Idee, die zum Beispiel gegenüber den Adventures von LucasArts aus dem Zeitraum den Vorteil hatte, dass auch wirklich der ganze Bildschirm für die Grafik genutzt werden konnte. Die Liste an Möglichkeiten konnte dabei durchaus lang werden – einen intelligenten Mauszeiger (wie ihn zum Beispiel die Kyrandia-Serie nutzte) gab es hier noch nicht. Auch eine Hotspotanzeige gibt es nicht. Stattdessen muss man selbst suchen, mit welchen Punkten man interagieren kann – und ja, auch hier bedeutet das ab und an Pixeljagd. Das ist aber eher Kritik aus der Perspektive eines Adventure-Spielers von heute – damals war eine Highlight-Funktion überhaupt nicht üblich. Die Suche nach winzig kleinen Objekten gehörte dazu.

Die Entwicklung von Lure of the Temptress ist untrennbar mit Charles Cecil verbunden, der heute mit Spielen wie der Broken Sword-Reihe oder eben Beneath A Steel Sky Gamern noch immer ein Begriff ist. Lure of the Temptress war zwar das Erstlingswerk von Revolution Software, aber bei weitem nicht Cecils erstes Spiel. Er hatte schon während seiner Studienzeit für Arctic Soft Textadventures geschrieben und übernahm nach seinem Abschluss 1985 die Leitung dieser Firma, die allerdings schon 1986 die Tore schloss. Danach gründete er Paragon Programming und arbeitete mit U.S. Gold zusammen, bevor er 1987 von eben dieser Firma abgeworben und dort Software Development Manager wurde. Erneut ein Jahr später wechselte er zu Activision, wo er Manager ihres Europastudios wurde. Damit einher ging auch ein wichtiger privater Schritt, denn dort lernte er Noirin Carmody, General Manager von Activision und gerade damit beschäftigt, den Namen Sierra in Europa bekannt zu machen, kennen – und lieben. Die beiden sind mittlerweile verheiratet und haben zwei Kinder.

Anders als ihre Beziehung war auch der Aufenthalt bei Activision nicht von langer Dauer: Bereits 1990 gründeten sie gemeinsam mit Tony Warriner und David Sykes Revolution Software. Dort arbeitet Cecil bis heute und seine Erfolge – wir haben die Hits wie Beneath a Steel Sky und Broken Sword ja bereits erwähnt – können sich sehen lassen. Ab und an übernahm er aber auch andere Projekte: Bei The Da Vinci Code (2006) von The Collective war er Consultant, für Disney war er an der Versoftung von Mulan und A Christmas Carol beteiligt. Bei letzterem arbeitete er erstmals mit Sumo Digital zusammen, mit denen er auch den vierten Teil der Broken Sword-Saga und BBCs Doctor Who: The Adventure Game realisierte. Des Weiteren ist er seit 2011 auch ein Member of the Order of the British Empire (MBE) für seine Verdienste in der Videospielindustrie und gern gesehener Gastredner auf diversen Events. Seine Themen drehen sich dabei oft um das Geschichten-Erzählen in Spielen, das laut ihm einen fundamental anderen Ansatz erfordere als andere Medien, da Setting und Gameplay zuerst kommen müssen, gleichzeitig aber die Story nicht fehlen darf.

Natürlich konnte man diese lange Erfolgsgeschichte zum Release von Lure of the Temptress noch nicht absehen. Aber einen ersten Schritt in diese Richtung gab es definitiv: Die Kritik lobte das Spiel fast durchgehend und verglich es positiv mit den Genrekönigen von Sierra und LucasFilm. Positiv wurden die NPC-Interaktionen, das Interface und das Design der Story sowie der Humor und sogar das gut geschriebene Handbuch(!) erwähnt. Kritik gab es vor allem an der recht kurzen Spielzeit. Rückblicke aus der Moderne kritisieren aber auch gerne die Eigenheiten, die die Virtual Theatre-Engine mit sich brachte, was zu einigen Durchhängern während eines Durchlaufs führen kann. Damals war das allerdings kaum ein Thema, zu begeistert war man von der lebendigen Welt.

In mein Leben trat Lure of the Temptress wie so oft in dieser Zeit per Magazin. Hier konnte ich den ganzen Artikel-Zyklus miterleben: Zuerst erwachte meine Neugier bei einem Preview, ein Review ließ mich über einen Kauf nachdenken, aber (und hier können treue Leser dieser Reihe vermutlich schon ein Muster erkennen) im Endeffekt war es eine abgedruckte Komplettlösung, die mir das Spiel verkaufte. Die Geschichte las sich interessant, also wollte ich das Spiel spielen. Wobei, eigentlich war es meine zweite Wahl: Das ebenfalls von Virgin veröffentlichte Curse of Enchantina (dessen Entwicklung ich auch per Magazin verfolgt hatte) sprach mich grafisch mehr an und hatte mein Interesse ein wenig mehr geweckt. Im Endeffekt wurde es aber aus Verfügbarkeitsgründen dann doch Lure of the Temptress. Im Nachhinein betrachtet die deutlich bessere Wahl, ist Curse of Enchantina heute doch deutlich schlechter gealtert.

In den frühen 90er-Jahren war ich kein absoluter Adventure-Noob mehr: Meine Liebe für LucasArts hatte ich damals ebenso schon entdeckt wie gewisse persönliche Probleme mit den Spielen von Sierra (von Larry mal abgesehen). Ich war aber offen genug, etwas Neues auszuprobieren. Und wenn ein Spiel eine Engine mit Theatre im Namen verwendet, kann ja nicht mehr viel schiefgehen, oder? Zu meinem Glück hatte ich mit dieser Einschätzung recht und Lure of the Temptress konnte mich recht rasch mit seinen Qualitäten überzeugen und mich in seine Story hineinziehen.

An diesem Punkt muss ich aber eine gewisse Einschränkung setzen: So gut ich Lure of the Temptress aus gewissen Gründen in Erinnerung habe, so wenig wirklich Herausragendes blieb von damals zunächst hängen. Wie war die Story? Oh, an das konnte ich mich gar nicht mehr so richtig erinnern. Das Interface? Anders als LucasArts und Sierra, keine Frage, aber keine Erinnerung mehr, wie die Steuerung genau war. Es sind eher zwei Dinge, die wirklich hängen blieben, und beide hatten mit der Engine zu tun: Die Lebendigkeit der Stadt und natürlich das „Tell Ratpouch to“-Feature. Nie zuvor hatte ich so detailliert Kontrolle über meine Begleiter gehabt – andere Spiele lösten dies wahlweise automatisch, aber auf jeden Fall einfacher. Nicht, dass es fehlerfrei gewesen wäre – tatsächlich scheiterte mein erster großer Durchlaufversuch im Endeffekt daran, dass ich nicht mehr genau wusste, wie ich meinen Begleiter durch die Gegend schicken musste. Und nein, da nutzte mir auch die oben genannte Komplettlösung nichts, denn die hatte genau dort einen Fehler. Und das Internet war damals für mich noch kein Thema. Also wanderte Lure of the Temptress auf einen Ablagestapel und wurde kaum mehr beachtet.

Das Resultat war, dass Lure of the Temptress lange Jahre ein Spiel war, das ich in guter Erinnerung hatte, ohne es jemals durchgespielt zu haben. Anders als viele LucasArts-Spiele war es kein persönlicher Klassiker geworden, eher ein Spiel, das ich vor langer Zeit einmal gespielt hatte, an das ich einige interessante Erinnerungen hatte, aber zu dem ich nicht mehr unbedingt zurückkehren musste. Auch die weiteren Revolution Software-Titel ließ ich interessanterweise länger links liegen – selbst als Broken Sword eine der wenigen Reihen des Genres geworden war, die den Niedergang der Point’n’Click-Adventures überstanden hatte. Zum Glück sorgten die Entwickler aber dafür, dass das Spiel kaum in Vergessenheit geraten konnte, unter anderem mit einem Release als Freeware im Jahr 2003. Das gab mir dann Gelegenheit, noch einmal in das Spiel einzutauchen und dann doch einmal den Abspann zu sehen.

Deshalb darf ich heute ruhigen Gewissens sagen, dass ich Lure of the Temptress trotz allem vermisse. Als wichtigen Vertreter dieses Genres, der bewies, dass erstens auch andere Studios als die beiden Genrekönige tolle Adventures abliefern konnten und zweitens das auch wollten; aber auch als mutiges Spiel, das sich an einigen Innovationen im Genre versuchte, die zumindest in einem Fall (dem Herumkommandieren) heute noch als berühmt gewertet werden kann, auch wenn es kaum Nachahmer gab. Ja, sogar als nettes Fantasy-Märchen mit einem ganz eigenen Tonfall, auch wenn ich im Endeffekt eben zugeben muss, dass mir die Handlung weniger in Erinnerung blieb, als mir lieb war. Aber auf jeden Fall als jenen Punkt, an dem die Geschichte von Revolution Software begann und bis heute fortgeführt wird. So viele Studios, die ihre Geschichte dem Adventure verschrieben haben, gibt es ja leider nicht mehr …

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Wirklich gutes Spiel. Und derzeit auf GOG gratis. :wink:

Nicht nur derzeit. Ich glaub, das ist dort schon ewig gratis :wink: Beneath A Steel Sky übrigens auch.

Umso besser. :+1:

Hatte ich am Amiga als ähm… Sicherheitskopie, schönes Spiel ich hab’s aber nie durchgespielt, irgendwas war da.
Lief in Echzeit bzw. Irgendwas mit Zeit, man konnte Situation versäumen glaub ich…

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Sehr schöner Artikel und gut zusammengefasst. :+1:
Hab das Teil auch nie durchgespielt. Die NPC haben sich frei auf der Karte bewegt
und war’n nie da wo sie sein sollten. Das Interface war auch nicht meins.
Vielleicht probier ich’s noch mal.

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Das war’s, ich wusste doch irgendwas hat mich da damals genervt. Man suchte den Schmied der war aber beim Wirt oder so…
Für die Zeit aber schon ein cooles Feature :wink:

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